Aus dem Leben der Seherin von La Salette, Melanie Calvat


Vielen sind die Muttergottes-Erscheinungen von La Salette vor 170 Jahren (19. September 1846) in den französischen Alpen bekannt, wo die Gottesmutter zur Umkehr und Buße aufgerufen hat, was von der Kirche auch offiziell anerkannt wurde. (Maria beklagte damals vor allem die mangelnde Heiligung des Sonntags, das Fluchen, die Verletzung des Gebotes des Fleischverzichtes am Freitag.) Wenige wissen aber etwas vom Leben der Seher selbst, weder vor noch nach diesen Erscheinungen.
Die Aufzeichnungen, die Melanie Calvat nach den Erscheinungen auf obrigkeitliche Anordnung über ihr Leben hinterlassen hat, besitzen zwar nicht die kirchenamtliche Anerkennung wie die Erscheinung selbst, sind aber für jeden, der sich mit der Erscheinung von La Salette beschäftigt, sicher von Interesse. Melanie lässt hier eine gewisse himmlische Führung erkennen, die sie in gewisser Weise auf den eigentlichen Tag der Bitten Mariens an die Kirche am 19. September 1846 offenbar schon von frühester Kindheit an vorbereitet hat. Man kann diese ihre Erinnerungen kritisch betrachten, wird ihr aber auch hier kaum grundlos Unehrlichkeit unterstellen können, wenn man sieht, mit welcher Aufrichtigkeit und Widerspruchslosigkeit sie die Erscheinungen Mariens vom 19. September im späteren Leben immer bekannt und verteidigt hat. Sie war dabei immer bereit, lieber jedes Opfer auf sich zu nehmen, als Mariens Worte zu verfälschen, so dass diese Erscheinung auch von der Kirche ausgiebig gepüft und nach eingehenden Verhören am 19. September 1851 vom Bischof von Grenoble, Mons. De Bruillard, als durchaus glaubwürdig erklärt werden konnte.
Die Seherkinder, Melanie Calvat, zum Zeitpunkt der Erscheinung 14 Jahre alt, und Maximin Giraud, damals zehn Jahre alt, wurden der Erscheinungen wegen oft verdächtigt, zum Teil auch verspottet oder belächelt. Melanie beschreibt später einmal bei Gelegenheit, welch widersprüchlichen Vorhaltungen sie sich seit jenem Tag entgegenstellen mussten:
Einerseits wurden sie „als verschlagene Gemüter hingestellt, fähig, eine Geschichte zu erfinden, in der die verschiedenen Partien zusammenhängen und sich in erstaunlicher Weise gegenseitig stützten“ (https://poschenker.wordpress.com/category/erscheinungen/erscheinungen-mariens/la-salette/). Andererseits würde man sie darstellen „als Wesen von einer an Idiotie grenzenden Unbefangenheit; als dumm genug, um einem Betrüger als Marionetten zu dienen, aber auch als dickköpfig genug, um an solch verrückter Überzeugung festzuhalten“ (ebd.).
Andere wiederum hätten, weil sie „uns weder die Genialität, noch die Dummheit zutrauten, in uns nur die überwältigten Zuschauer eines natürlichen Vorgangs gesehen, den sie anschließend als Wunder ausgaben… Anderes vermochte man nicht vorzubringen“ (ebd.).
Auch Maximin musste viele Verdrehungen und Verdächtigungen widerlegen und zurechtrücken. Er weist dabei unter anderem darauf hin, dass er Melanie erst am Tag vor der Erscheinung kennen gelernt habe und sie danach auch gleich wieder getrennte Wege gingen, dass sie also keine Gelegenheit gehabt hätten, etwas miteinander auszuhecken oder sich in den Monaten danach je untereinander abzusprechen. Und es war wirklich erstaunlich, dass die Kinder nach den Erscheinungen völlig übereinstimmend und fehlerfrei die Worte Mariens wiedergeben konnten, die teils auch auf Französisch formuliert waren, was den Kindern bis dahin überhaupt nicht geläufig war. Er schreibt: „Am Tag darauf kehrte ich zu meinem Vater nach Corps zurück; Melanie hütete weiterhin ihre Herde. Während dreier Monate waren wir durch göttliche Vorsehung voneinander getrennt, und berichteten jedes für sich, was wir gesehen und gehört hatten; wir beantworteten alle Einwände, die man uns machte, und zwar auf Französisch, das wir am nämlichen Morgen des 19. Septembers 1846 noch nicht zu sprechen wussten“ (ebd.).
Diese beiden einfachen, ungebildeten Hirtenkinder, die nur ihren Dialekt sprachen und kaum die wichtigsten christlichen Gebete kannten, führten auch nach der Erscheinung, die sie weltweit bekannt gemacht hatte, weiterhin ein armes und in den Augen der Welt kaum zu beneidendes, unscheinbares Leben.
Trotzdem hat der Himmel gerade diese Kinder erwählt, um Frankreich, ja der Erde eine wichtige Botschaft und einen umfassenden Aufruf zur Bekehrung mitzuteilen. „Was der Welt töricht erscheint, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen. Was der Welt schwach erscheint, hat Gott auserwählt, um das Starke zu beschämen“ (1Kor.1,27), so beschreibt der hl. Paulus ein auffälliges Grundgesetz des göttlichen Lebens.
Betrachtet man diese Kinder und ihre Schwierigkeiten, überhaupt mit den wichtigsten Grundlagen des christlichen Glaubens bekannt zu werden und so auf religiösem und sittlichem Gebiet im Leben Fortschritte zu erzielen, trotz eines damals scheinbar allgegenwärtigen „katholischen“ Umfeldes, dann sieht man, dass ein Leben aus der Wahrheit nicht nur heute schwierig ist, sondern immer die Hilfe Gottes voraussetzt, die uns demütig macht.
Ein Blick über den Horizont unserer eigenen Zeit hinaus auf die Nöte anderer Generationen kann auch uns einem möglichen falschen oder übertriebenen Selbstmitleid oder gar Neid angesichts der Prüfungen unserer Tage entreißen. Es ist wahr: wenn der Glaube schwindet oder, wenn wir eine so große Verwirrung in der Kirche erleben wie heute, dann ist das persönlich wie gesellschaftlich eine große, schmerzhafte und harte Prüfung. Aber nicht nur der radikale Abfall vom Glauben, den man heute leider weithin beobachten muss, kann eine schwere Qual für jede Gott liebende Seele und für ein ganzes Volk sein. Wir sehen, wie auch und besonders die Lauheit eine Pest und eine äußerst große Gefahr für diejenigen sein kann, die in solcher Umgebung, trotz eines nach außen hin scheinbar intakten „christlichen“ Umfeldes, leben müssen. Zu jeder Zeit mussten sich die Jünger Jesu mit aller Kraft gegen Abfall und Verwirrung stemmen, auch und gerade dann, wenn nach außen hin in großen Teilen der Gesellschaft noch eine katholische Atmosphäre zu spüren war, die heute leider oft völlig fehlt!
Vergessen oder übersehen sollten wir dabei auch nicht, wie Gott zu allen Zeiten diejenigen behütet und führt, die Ihm in einem heiligen und reinen Leben treu dienen wollen. Das geschieht oft in einer für die Welt verborgenen Art, wie es auch das Beispiel der Seherkinder von La Salette zeigt. Melanie Calvat (7.11.1831 – 14.12.1904), die am 19. September 1846 mit knapp 15 Jahren die heilige Jungfrau Maria mit eigenen Augen schauen durfte, deren Schönheit, deren mütterliche Güte und deren himmlischen Liebreiz sie ein Leben lang nie mehr vergessen konnte, beschreibt in späteren Aufzeichnungen die Fürsorge Gottes, die sie auf ihre Sendung schon von frühen Kindestagen an geheimnisvoll vorbereitet hat.
Wenn heute vor allem Überfluss, Wohlstand und ein Versagen der kirchlichen Führung (verursacht durch eine weit verbreitete Ablehnung der Überlieferung der Kirche) das geistige Leben vieler Menschen in Europa bedrohen, so war es in Frankreich und vielen anderen Gegenden zur Zeit von Melanie Calvat oft die übergroße Armut, die den Menschen den Zugang zum wahren katholischen Glaubensleben und zur Bildung überhaupt erschwerten. Melanie berichtet in ihren autobiographischen Aufzeichnungen über ihre Jugend, die sie im Gehorsam gegenüber verschiedenen Geistlichen niedergeschrieben hatte, über ihren großen Schmerz darüber, dass sie mit 15 Jahren noch nicht einmal zur heiligen Kommunion zugelassen worden war, da sie nicht regelmäßig am Katechismusunterricht teilnehmen konnte. Man wundert sich, wie in einem einstmals so katholischen Land wie Frankreich, in dem doch trotz allen weltlichen „Gegenwindes“ noch so viele Geistliche wirkten, ein Mädchen mit 15 Jahren noch so wenig vom katholischen Glaubensleben mitbekommen hatte, wenngleich man auch nicht vergessen darf, dass es sich um die Jahrzehnte nach der sogenannten „französischen Revolution“ handelt, nach der viele weltliche Autoritäten den Glauben des Volkes mit Stumpf und Stiel auszurotten bemüht waren.
Wie der Reichtum kann also auch die Armut ein Hindernis auf dem Weg zu Gott sein oder gar in einem ganzen Volk zu Lauheit und Gewissenlosigkeit beitragen, auch wenn sich der Mensch in der Armut oft leichter die innere Freiheit für Gott bewahrt, die Jesus anspricht, wenn er sagt, dass „leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr“ gehe „als ein Reicher ins Reich Gottes“ (Mk.10,25).
Da Gott aber gerne „Niedrige emporhebt“ und „Hungrige mit Gütern erfüllt“ (vgl. Magnifikat Lk.1,52f.), so erfahren wir in diesen autobiographischen Schriften Melanies auch ein Geheimnis, dass ihr nämlich schon von Kind an dieser Mangel an Religionsunterricht durch übernatürliche Führung und Schauungen, von denen ihre Umwelt nichts ahnte, auf wunderbare Weise ausgeglichen wurde. Seelische Erlebnisse sind von außen oft schwer nachzuvollziehen und kaum zu überprüfen. Es gibt aber letztlich keinen wirklichen Grund, an der Aufrichtigkeit der Erzählerin zu zweifeln, zumal sie sich damit nicht selbst erhöht, sondern ganz offen ihre Schwächen, vor allem aber die Gnade Gottes hervorhebt.
Melanie Calvat wurde am 7. November 1831 in der Kleinstadt Corps zwischen Grenoble und Gap in den französischen Alpen geboren und am 8. November dort auf den Namen Francoise-Melanie getauft. Ihr Vater war Maurer und kam oft nur, je nach Entfernung der Baustellen, am Ende der Woche oder gar eines Monats wieder nach Hause. Durch Beruf und Umstände empfing er zwar nicht oft die Sakramente, wollte aber dennoch, dass seine Kinder gute Christen würden.
Die Mutter war deswegen oft mit den Kindern allein und suchte im Winter gern Abwechslung in den Spinnstuben der Nachbarinnen, im Sommer bei Schaustellungen von durchziehenden Wanderbühnen oder anderen Vergnügungen.
Das Töchterlein Melanie war ihr nach drei Jungen zunächst eine große Freude und die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches gewesen. Doch das kleine Mädchen, dem später noch zwei Knaben und zwei Mädchen folgten, war oft bei den öffentlichen Veranstaltungen nicht so still, wie erwartet, sondern schrie, bis die Mutter wieder heimgehen musste, was für diese natürlich sehr ärgerlich war.
Zu Hause war das Kind dann oft umso ruhiger. Besonders liebte es Melanie, wenn der Vater sie auf den Schoß nahm, ihr ein Kruzifix in die Hand gab und ihr erzählte, wie der Heiland für uns gelitten hat, um die Pforten des Paradieses wieder zu öffnen. „Das gefiel mir sehr gut“, schreibt Melanie. „Ich liebte diesen Christus, ich sprach mit Ihm, aber Er antwortete mir nicht, und in meiner Unwissenheit dachte ich, dass ich Sein Schweigen nachmachen müsse…“. (Gouin, Paul, Melanie, die Hirtin von La Salette, Stein am Rhein 1982, S. 29).
Weil Melanie ihre Mutter immer wieder daran gehindert hatte, an einer schönen Vorstellung teilzunehmen, wurde sie von dieser zur Strafe bald nur noch „die stumme Wilde“ genannt, die besser im Wald leben sollte wie eine Wölfin und die auch nicht mehr „Mama“ zu ihr sagen sollte.
Melanie war damals kaum drei Jahre alt und ging deshalb eines Tages allein in den Wald nahe ihrem Haus, das am Ende des Dorfes lag. Es war „dieser Wald, den ich aus eigener Kraft erreichen wollte“, erinnert sie sich, „ …aber nicht weit vom Haus fiel ich schon hin. Da erschien sofort ein hübsches Kind meines Alters und gab mir die Hand, um mich aufzuheben. Ich kannte es schon lange und hatte es beinahe jeden Tag, seit ich bei Bewusstsein war, gesehen“ (a.a.O., S. 30).
Ein anderes Mal war sie wieder, verjagt von zu Hause, entmutigt zum Wald gegangen. „Und ich dachte, der Erlöser hat … nie zu mir gesprochen, und doch ist er mit seinen geschlossenen Augen gestorben; daher will auch ich ihn lieben, für ihn sterben, ich möchte ihm gehören und für immer … Christus hat die Lippen geschlossen; so will auch ich mit geschlossenen Lippen beten“ (a.a.O., S. 31). Und sie sagte stumm: „Ich liebe Dich wie einen Freund, wie einen guten Vater, der die Güte selbst ist … Dein Thron ist das Kreuz, ich verlange das Kreuz für mich selber … Ich verstand darunter das Kreuz des Waldes. Weiter wusste ich nicht zu gehen … Und ich dachte: Christus weint nicht, er hält die Augen geschlossen und er schweigt, ich liebe ihn und will es ihm nachmachen, ich werde nicht mehr weinen“ (ebd.). Sie schlief ein und erwachte erst wieder bei Sonnenaufgang. Da vernahm sie im Traum, angelehnt an einem grünen Zweig bei einem alten Baumstrunk, eine Stimme: „Schwester, meine liebe Schwester … ich bin dein Bruder … komme“ (ebd.). Es war das erste Mal, dass dieses Kind, das ihr schon öfter erschienen war, sie ansprach. Sie wollte es küssen, erhielt aber die Antwort, dass die Stunde noch nicht gekommen sei. Ihr Herz ist aber plötzlich von Licht und Gnade erfüllt, und als sie, im Traum am Fuß eines Berges angekommen, den Weg voller Felsbrocken und Dornen sieht und nach Golgota will, da sagt ihr Begleiter: „ … passe auf, mich nicht zu verlieren, sonst wirst du fallen“ (a.a.O., S. 32). Als sie dann viele Leute auf einem breiten und bequemen Weg gehen sieht, die sie als Närrin oder Heuchlerin verspotten, dann aber plötzlich in eine Grube von Rauch und Flammen stürzen, bietet sie „sich dem Erlöser an, … zu leiden, Tag für Tag, um die Schmähungen gegen seine verkannte Herrlichkeit wieder gutzumachen“ (a.a.O., S. 33). Da meint sie, die Hand ihres Begleiters nicht mehr zu spüren und erlebt eine schmerzhafte Unruhe, tröstet sich aber, dass sie dieses Leiden verdient habe. Als sie die Hand wieder spürt, erwacht sie voll Freude, da die Sonne schon hochsteht, und bittet „durch die Verdienste des Erlösers, leiden zu können, um ihn zu lieben, wie er geliebt werden möchte“ (a.a.O., S.34). Sie erhält dann auch die Offenbarung des Geheimnisses der Eucharistie: „Die Erscheinung des Allmächtigen, des in Brot Verwandelten, dauerte nicht länger als einen Augenblick … Ich verstand, dass ich von mir aus nichts vermag … da sah ich in Blitzesschnelle … wie mein Erlöser mit einem großen Kreuze und mit Dornen gekrönt vorbeizog“ (a.a.O., S. 34). Sie wird von ihrem „Bruder“ immer wieder mit köstlicher Nahrung versorgt, die ihr Kraft für mehrere Tage verleiht, und schließlich empfängt sie eine Art mystischer Kommunion und die Wundmale Christi. Noch ihre letzten Briefe enthalten Flecken wegen dieser geheimnisvollen Wunden.
Sie durfte als Kind auch schon Maria sehen. „Unsere Mutter“ hatte ihr kleiner „Bruder“ sie bei ihrer ersten „Kommunion“ genannt. Für Melanie ein großes Glück: Ausgestoßen hatte sie eine neue und wunderbare Mutter gefunden!
Und als sie einmal, als sie von zu Hause wieder weg gewiesen wird, in die Kirche geht, findet sie auf den Armen der Marienstatue ihren kleinen „Bruder“ mit einem kleinen Spiegel mit Flecken darauf. Sie versteht, dass diese wohl ihre Sünden und Fehler bedeuteten, die ausgetilgt werden müssen, damit das Jesuskind sein klares Bild in ihrer Seele wiederfinden kann. Sie bat Jesus um die Lossprechung von allen Sünden und Maria um ihre Fürsprache. Da gab ihr das Jesuskind den Segen und der Spiegel wird unter dem Finger der Jungfrau ganz rein.
Da die Schwester ihres Vaters auch gerade in der Kirche ist, darf sie mit ihr nach Hause gehen und schließlich sogar zwei oder drei Monate bei dieser Tante bleiben. Hier wird gebetet und sonntags geht man in einer kleinen Wallfahrt zu einer Kapelle in einer Bergschlucht auf dem Weg nach La Salette. In diesen Monaten konnte sie auch zur Schule, doch die Zeit war viel zu kurz, um die Buchstaben oder gar Französisch zu lernen. Melanie sprach und verstand nur Dialekt.
Immer nach dem Winter kamen die Bewohner der umliegenden Bergdörfer nach Corps hinab, um junge Hirten für die Sommermonate zu finden, die das Vieh auf die Hochalmen treiben und dort weiden sollten. Schon mit sechs Jahren wurde Melanie so von ihrer Mutter an eine alte Frau als Hirtenmädchen verdingt. Für sie begann damit ein neues Leben in geduldigem Gehorsam.
Die Stille der Bergwiesen mit ihren Blumen und Tieren regten nun ihre Andacht an. Sie baut sich gerne ein „Paradies“, ein kleines Häuschen aus Steinbrocken, das sie mit allerhand Blumen und Girlanden verziert, wie sie es auch an jenem 19. September 1846 zusammen mit Maximin getan hatte, bevor ihnen die Jungfrau Maria erschienen war. Manchmal erscheint in dieser Einsamkeit auch ihr kleiner „Bruder“ und hilft ihr beim Blumenpflücken. Noch als alte Frau war sie von Blumen angezogen und blieb oft gebannt vor ihrer Schönheit stehen blieb, was Abbé Combe in seinem Tagebuch am 8. Juli 1900 vermerkt (vgl. a.a.O., S. 42).
Der Anfang dieses ihres neuen Dienstes war natürlich für ein so kleines Kind keine leichte Sache, hatte sie doch noch überhaupt keine Ahnung vom Hüten des Viehs und von der Aufteilung der Grundstücke, doch auch da hilft ihr kleiner „Bruder“: Er macht sie auf die Grenzen und die Rechte der jeweiligen Eigentümer aufmerksam. Sie findet dadurch zu einer für sie bisher unbekannt klaren Einsicht und Erleuchtung über die Bedeutung von Ordnung, Recht und Gerechtigkeit im Leben.
In den nächsten Jahren muss sie bei verschiedenen Familien Schafe hüten oder auf ein kleines Kind aufpassen. Auch das sind keine kleinen Aufgaben für ein so junges Mädchen gewesen, wenn man nur daran denkt, dass damals noch Wölfe über die Bergwiesen und durch die Wälder streiften und immer wieder auch Schafe rissen! Der Vater schickte sie zwischenzeitlich auch in die Schule und war darauf bedacht, dass sie etwas lernen kann. Doch die oftmalige und lange Abwesenheit des Vaters verhinderte einen längeren und durchgehenden Schulbesuch.
Die Atmosphäre zu Hause war oft angespannt. Einmal fand der Vater kein Hemd, an dem nicht ein Knopf fehlte und beklagte sich deswegen bei der Mutter. Melanie will die Situation entschärfen und näht schnell einen Knopf an. Doch jetzt nennt der Vater sie eine bessere Hausfrau als ihre Mutter. Das Verhältnis zu ihrer Mutter, der sie doch eigentlich durch ihre gute Tat helfen wollte, wird so stattdessen wieder einer neuerlichen Prüfung unterzogen, indem der alte Zorn ihrer Mutter gegen sie wieder neu entflammt.
Ihre Bemühung, Gutes zu tun, scheint immer wieder gerade das Gegenteil zu bewirken und führt das noch unerfahrene Kind wiederholt und meist unversehens in merkwürdige Prüfungen und Anklagen: Einmal, als sie bei einer Familie Dienst tut und mit dem kleinen Kind allein zu Hause ist, kommen maskierte Männer und verlangen Geld und Essen. Melanie zeigt ihnen den Speck, damit sie ihren Hunger stillen können. Die Hausherren finden das natürlich bei ihrer Rückkehr gar nicht gut, ja sie bezichtigen das Mädchen der schweren Sünde, weil sie ihr Haus und Eigentum nicht gut gehütet hat. Und so fühlt sie sich auch immer wieder selbst schuldig, obwohl sie in ihrer Unerfahrenheit nichts Böses, sondern nur Gutes wollte. Erst, als sie von Jesus die Worte vernimmt. „Schwester meines Herzens, der Friede sei mit dir“, findet ihr reuevolles Herz wieder Frieden. Und Gott selbst zeigt ihr, dass Er auch bei Menschen, die Er liebt, noch bestimmte Schwierigkeiten und Schwachheiten zulässt, um sie vor Hochmut zu schützen.
Einmal ist sie bei einer Dienstherrin, die den Verlobten ihrer Tochter prüfen will, ob er sie nur wegen der Mitgift zu heiraten beabsichtige. Die Frau gibt daher vor, das Geld der Mitgift sei verschwunden und lenkt den Verdacht offen vor allen auf Melanie. Melanie kann nur beteuern, dass sie nichts von diesem Geld wisse oder genommen habe. Es mache ihr aber auch nichts aus, fügt sie hinzu, wenn sie ins Gefängnis geworfen würde, denn dann könne sie für ihre Sünden Buße tun und Jesus auf dem Weg der Passion begleiten. Sie wird daraufhin als Scheinheilige bezeichnet. Doch bei dieser Gelegenheit wird durch eine anwesende Person erzählt, was den anderen noch unbekannt war, dass nämlich einmal auf die Gebete Melanies hin ein kleines Kind, das ins Feuer gefallen war, plötzlich keine Spuren einer Verbrennung mehr aufwies, und dass sie ein anderes Mal einem kleinen Mädchen, das vom Baum gefallen war und sich den Fuß gebrochen hatte, ein Kreuzzeichen auf den Fuß gemacht hatte und das Kind dann wieder ganz normal gehen konnte. Die Dienstherrin bekannte ihre falsche Anklage trotzdem erst nach längerer Zeit und "entschuldigte" sich mit dem Hinweis, dass sie eigentlich nur ihren zukünftigen Schwiegersohn auf die Probe stellen wollte. Melanie hatte diese „Zeit der Trostlosigkeit und der Verwüstung“ im Vertrauen auf Gottes Allmacht und vorhersehende Weisheit schweigend und in einer Haltung großer Demut und Ergebung ertragen. In solchen Prüfungen hatte ihr vor allem ihr kleiner „Bruder“ Kraft gegeben, der ihr die Fähigkeit verlieh, alles aus dem Blickwinkel Gottes zu sehen.
Einer inneren Eingebung folgend, betet sie auch Novenen für die Armen Seelen. Einmal sieht sie ihren Schutzengel, der ihr einen Blick ins Fegfeuer ermöglicht. Sie bringt viele Opfer, da sie sich danach sehnt, alle Seelen zu retten und für alle Sünder zu leiden, damit sie die Sünde aufgäben um Jesus allein zu lieben (vgl. a.a.O., S. 46f.). Ein anderes Mal sieht sie in der Kirche am Fuß des Hauptaltars einen Priester mit zerrissenen Kleidern, der sie bittet, für seine Erlösung aus dem Fegfeuer und für die Wiedergutmachung seiner Lauheit die heilige Messe für ihn aufzuopfern. Trotz allen eifrigen Bemühens gelingt es Melanie aber erst nach drei Tagen, eine Gelegenheit zu finden, zur heiligen Messe gehen zu können. „Ich erhielt die Erlaubnis, das Haus zu verlassen … und ich ging, um dieser Messe für den verstorbenen Priester beizuwohnen. …ich konnte nicht beten. Ich begnügte mich, am Fuße des Kreuzes niederzufallen und so auf diesem neuen Kreuzweg während des unblutigen Opfers des Gottmenschen zu verharren … Ich opferte dem Vater alle Tugenden auf, die Jesus ausgeübt hat zur Wiedergutmachung der verkümmerten Liebe, des matten Eifers, des schwachen Glaubens und der lauen Nächstenliebe … und so stellte ich Gott das ganze Leben des Erlösers … vor Augen.
Nach der Messe sah ich den Priester, angetan mit neuen Kleidern, die mit funkelnden Sternen übersät waren, wieder. Seine über und über geschmückte, vor Seligkeit leuchtende Seele schwebte zum Himmel“ (a.a.O., S. 57).


(Fortsetzung folgt)

Thomas Ehrenberger



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